Allgemeine Gedanken zum Zeugnisschreiben

Ein Beitrag von Christina Singer, Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Freiburg St. Georgen

Dem Verfassen von Jahreszeugnissen kommt an Waldorfschulen eine besondere Bedeutung zu. Nicht nur die schulischen Leistungen wollen beschrieben, sondern die SchülerInnen sollen in ihrer Beziehung zur Welt, also auch zu den Inhalten des Unterrichts, zu ihren Mitmenschen, zu den eigenen Ressourcen usw. charakterisiert werden. Werden diese beiden Bereiche wertfrei und auf Grundlage differenzierter Beobachtung dargestellt, entsteht im besten Falle ein Text, in dem nicht nur von Vergangenem die Rede ist, sondern durch den Entwicklungsmöglichkeiten in ihrer Dynamik sichtbar werden können. 

Um diesem Anspruch nachzukommen, gilt es, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Wie können diese aussehen?

 

Der Ort

Im eigenen Arbeitszimmer? Das ist wohl der naheliegendste Ort. Man hat seine gewohnte Arbeitsumgebung, legt sich die Zeugnisnotizen bereit und holt sich vielleicht aus der Schule noch Schülerhefte oder ähnliches, um die Notizen zu veranschaulichen. Die Herausforderung, den Ablenkungen der eigenen Wohnung zu widerstehen, wird man von der Unterrichtsvorbereitung schon kennen.

Verbindet man das Zeugnisschreiben mit Urlaub, entfernt man sich von den Gewohnheiten des Arbeitszimmers. An einem ruhigen und womöglich naturnahen Ort kann sich die Seele vom Alltag erholen und der innere Blick auf die SchülerInnen weitet sich. Wichtig ist hierfür eine kompakte und daher problemlos transportierbare Dokumentation der Beobachtungen, die man das Schuljahr über gemacht hat.

Ich selbst hatte mir für einen solchen Urlaub die griechische Kykladeninsel Sifnos ausgesucht. Dort waren wir in einem Dörfchen, das aufgrund der Vorsaison noch recht ruhig war, direkt am Strand in einer kleinen Pension untergebracht. Vormittags schrieb ich, mit Blick aufs Meer, jeweils drei Klassenlehrerzeugnisse, die Nachmittage waren schulfrei. Für jedes Zeugnis nahm ich mir durchschnittlich eine Stunde Zeit (nicht länger als eine A4 Seite, Schriftgröße 12). Ergänzungen der letzten Schulwochen und der Feinschliff kamen später.

 

Die Haltung

Soll ein Zeugnis entwicklungsfördernd wirken, ist die innere Haltung des Verfassers grundlegend. Eigene Themen und Lernfelder, die womöglich anstrengende Beziehung zu Schülereltern, vielleicht auch zum Schüler selbst, haben dort keinen Platz und dürfen schon gar nicht subtil mitschwingen. Ein wahrhaftiger Blick auf das Kind oder den Jugendlichen gelingt nur, wenn ich mich von meinem eigenen Ballast innerlich frei mache.

 

Die Notizen

Horizontal oder vertikal? Als horizontale Notizen bezeichne ich Klassenlisten, die für jeden Unterrichtsbereich geführt werden (Fächer, Sozialverhalten, Arbeitshaltung u. a.) und zu allen SchülerInnen Notizen enthalten. Beim Schreiben eines Zeugnisses gehe ich Liste für Liste durch und übernehme die Notizen eines bestimmten Schülers. Durch solche Listen fällt es mir leicht, im Rahmen einer Epoche zu allen Schülern etwas aufzuschreiben, weil ich für meine Notizen nur eine Liste brauche.

Mit vertikalen Notizen meine ich einen Ordner / Schnellhefter für jede(n) SchülerIn, in dem die Verhaltensbeobachtungen und Leistungsbeschreibungen notiert sind. Entweder chronologisch eines nach dem anderen oder auf einem Übersichtsblatt, auf dem jedem Arbeitsbereich eine Spalte zugeordnet ist. Das hat den Vorteil, dass ich auf einen Blick sämtliche Notizen eines Schuljahres zu einem Schüler / einer Schülerin überblicken kann.

 

Die Adressaten

An wen richtet sich das Zeugnis?

Je eigenverantwortlicher die SchülerInnen lernen können, desto wichtiger sind für sie direkte Spiegelungen über ihre Arbeitshaltung und ihren Lernerfolg. Spätestens ab Beginn der Oberstufe wird man sich also mit dem Zeugnis direkt an den Schüler / die Schülerin wenden.

In der Unterstufe, in der die Kinder vor allem aus Liebe zum Lehrer / zur Lehrerin und aus der direkten sinnesbezogenen Weltbegegnung heraus lernen, ist es nicht angebracht, sie auf diese Weise in ihrer ungezwungenen Lernhaltung zu stören. Die Kinder dürfen noch ganz in der Sicherheit leben, dass die Erwachsenen ihre Entwicklung liebevoll im Blick haben. Und welches ihre Lernfelder sind, wissen Kinder auch ohne Zeugnis sehr genau durch zeitnahe, situationsbezogene Spiegelungen von Eltern und Lehrern auf ihr Verhalten. Ein Bericht der Eltern an Kinder der Unterstufe über das Zeugnis ist aus meiner Sicht nicht nur unnötig, sondern kann im schlimmsten Fall das Kind in eine zu frühe Selbstverantwortung befördern.

In der Mittelstufe liegt der Übergang: hier kann z .B. das Zeugnis, das sich vom sprachlichen Ausdruck her an die Eltern richtet, von diesen gemeinsam mit ihrem Kind durchgelesen und besprochen werden.

 

Zeugnis versus Elterngespräch

Alles, was schwarz auf weiß abgedruckt wird, bewirkt eine Festschreibung. Wenn in Zeugnissen ein Mensch beschrieben und beurteilt wird, ist das eine einseitig hierarchische Kommunikation von einem Menschen über einen anderen Menschen. Die Auswirkungen von Festschreibung und Einseitigkeit in der Kommunikation müssen dem Zeugnisschreibenden bewusst sein. Dass es in einem Zeugnis nicht darum gehen kann, zu psychologisieren, auf erzieherische Mängel hinzuweisen oder Ratschläge zu erteilen, versteht sich daher von selbst.

Damit das Zeugnis nicht zum Ventil für den Kommunikationsbedarf des Lehrers wird, helfen regelmäßige Eltern-Lehrer-Gespräche, in denen über die Entwicklung des Kindes in der Schule gesprochen wird, Ziele gesetzt und Vereinbarungen getroffen werden und Austausch auf pädagogischer Augenhöhe stattfindet. Haben genügend solcher Gespräche stattgefunden (in der Regel reicht eines pro Schuljahr), gibt das Zeugnis lediglich das Wichtigste dessen wieder, was im Gespräch schon lebendig bewegt wurde. Auf diese Weise kann es im besten Sinne Zeugnis eines liebevollen, gewissenhaften und freilassenden Erziehungs- und Entwicklungsprozesses sein.

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