Netzwerk: „Blick über den Zaun“

Wie Schulen voneinander lernen können - ein Beitrag von Otto Seydel

Auf meine alten Tage bin ich nun doch noch zum Gärtner geworden. Das späte Lernen naturverträglicher Düngevorschriften, der Unterscheidung von Nützlingen und Schädlingen, des richtigen Fruchtwechsels fällt zwar schwer. Neidisch bin ich auf meine Enkel, die blitzschnell begreifen und fast nichts vergessen. Aber ich habe eine wunderbare Stütze gefunden: den oft verstohlenen, zu selten offenen Blick über den Gartenzaun des Nachbarn. Richtig ergiebig wird diese Werkspionage in der Regel dann, wenn der Nachbar auch noch Zeit für einen Schwatz hat, so dass ich seine Tricks kennen lerne, mit denen er glaubt zu bewirken, dass seine Lilien so viel besser gedeihen als meine.

Gärten und Schulen haben eines gemeinsam: Man kann nie präzise vorhersagen, was am Ende herauskommt. Die Kopie eines angeblich perfekten Vorbildes führt angesichts der immer (!) unterschiedlichen Voraussetzungen keineswegs automatisch zu einem guten Ergebnis. Dieser Einwand hindert mich aber nicht, den Erfahrungsvorsprung des Nachbarn, seine Grundrisse und Entwicklungspläne intensiv zu prüfen und - angepasst an meine Bedingungen – damit zu experimentieren ….

Genug des Metaphernspiels: Seit 1989 gibt es - angestoßen durch ein Projekt der Robert Bosch Stiftung - den Schulverbund „Blick über den Zaun“. Kristallisationskern war eine Gruppe „alter“ und „neuer“ reformpädagogischer Schulen – Schule Schloss Salem, Waldorfschule Überlingen, Montessorischule Friedrichshafen, Hermann Lietz Schule u.a. auf der einen Seite, Laborschule Bielefeld, Glockseeschule Hannover, Helene-Lange-Schule Wiesbaden u.a. auf der anderen.

  • In diesem schulischen Netzwerk haben sich zunächst wenige, inzwischen über 60 Schulen aller Schulformen aus ganz Deutschland zusammengeschlossen, aufgegliedert in 7 Arbeitskreise.
  • Die Arbeitskreise sind bewusst gemischt zusammengesetzt: Unterschiedliche Schulformen, Schulen in freier und in staatlicher Trägerschaft, unterschiedliche reformpädagogische Hintergründe (wobei es darunter manche öffentliche Schule gibt, die erst in der Begegnung im jeweiligen Arbeitskreis bemerkt hat, dass sie reformpädagogische Prinzipien vertritt).
  • Die Schulen haben eine einfache Verabredung getroffen: Einmal pro Jahr treffen sich die - in der Regel - acht Schulen jedes Arbeitskreises, um sich gegenseitig in die Karten zu schauen

Das bedeutet konkret: Zweimal im Jahr (Frühling, Herbst) besuchen für zweieinhalb Tage je zwei bis vier Kollegen der sieben anderen Schulen gemeinsam die „achte“ Schule. Schon im Vorfeld hat die gastgebende Schule vorher um einen speziellen Blickwinkel ihrer Besucher gebeten: „Gehen wir angemessen mit der Heterogenität unserer Klassen um?“ – „Wie können wir unsere Räume besser gestalten?“ – „Sind unsere Fördermaßnahmen angemessen?“ u.a.

 

VERLAUF DES BESUCHS

  • Einführung in das Programm der Schule: In der Regel am Anreisetag abends, in der Regel durch die Schulleiterin bzw. den Schulleiter.
  • Kurzberichte aus den Schulen: Diese Einheit, in der alle beteiligten Kollegen in einer Art "Blitzlicht" neue Entwicklungen und aktuelle Probleme aus der eigenen Schule vorstellten, wird an den Anfang gestellt, um für den Verlauf der Tagung zusätzlich neugierig zu machen und "bilaterale" Kontakte anzubahnen.
  • Hospitationstag: Je nach Charakter der Schule verläuft diese Hospitation unterschiedlich. Vor allem in Internaten bewährt sich das "Schattenmodell": jeder Besucher geht einen ganzen Tag als "Schatten" eines bestimmten Schülers mit durch den Tag. So versteht man die zentrale Bedeutung des Schullebens am besten, zumal in einer Internatsschule, wo es ja 24 Stunden währt! In anderen Schulen werden die Besucher an Fachbereiche gekoppelt, in wiederum anderen an Klassen oder Jahrgangsteams.
  • Rückmelderunde: Je nach Anlage der Hospitationen wird diese Rückmelderunde variiert. In der Regel verläuft sie in drei Schritten:
    - Rückmeldung an den Einzellehrer (z.B. im Anschluss an die Stunde)
    - Rückmeldung an das Kollegium
    - Rückmeldung an die Schulleitung
  • Schulprogrammfragen: Oft in Verbindung mit dem 3. Schritt in der Rückmelderunde gibt es in Fortsetzung der Anfangseinführung die systematische Vorstellung und Erörterung von Spezialproblemen aus dem Schulprogramm.
  • Rückblick und Ausblick: In der Schlussrunde wird die übliche "Seminarkritik" gesammelt, um das Tagungsschema zu optimieren und die Eckdaten für die kommende Tagung zu bestimmen.

 

Auf die Zaungäste haben diese Besuche in der Regel drei wichtige Wirkungen:

  1. Die oft geradezu verwirrende Konfrontation mit einer anderen, z. T. sehr fremden, Schulkultur klärt den Blick auf die eigene Schule.
  2. Die Übernahme von neu in der besuchten Schule Gesehenem geschieht selten direkt, sondern zeitverzögert und mit einer Reihe von Transformationen, manchmal mit einem „sleeper effect“, wenn erst im Nachhinein klar wird: „Das hatte ich ja dort und dort gesehen.“ Nach der Rückkehr des Grenzgängers ist die Neugier der daheimgebliebenen Kollegen auf das, was er gesehen hat, nur von kurzer Dauer. Mit einiger zeitlicher Verzögerung kommt dann aber bei passender Gelegenheit die Frage: „Du warst doch in der Bodenseeschule - wie haben die denn die Organisationsprobleme des Epochenunterricht gelöst?“ etc. Der Bericht über eine andere Schule bekommt eine ganz andere Qualität, wenn es im Kollegium jemanden gibt, der ihre Schwelle überschritten hat. Er hat nicht nur über deren Zaun geblickt, sondern mit dem Nachbarn selbst gesprochen.
  3. Mindestens genauso wichtig – wenn nicht sogar wichtiger – im Vergleich zum „sachlichen“ Transfereffekt ist der motivationale Aspekt der Ermutigung und Rückenwärme: „Meine Schule ist im Vergleich zu der anderen gar nicht so schlecht.“ „Meine Arbeit wird von den anderen wahrgenommen und wertgeschätzt.“ „Andere haben auch ungelöste pädagogische Probleme und sind trotzdem nicht verzagt.“....

Das Gastgeschenk, das die Besucher als Dank zurücklassen, ist von ganz besonderer Art. Das Kollegium bekommt am Ende des Besuches einen ungewöhnlichen Spiegel über das Gesamtbild der Schule, über ihre Stärken, Schwächen und Entwicklungspotentiale. Die unterschiedliche Herkunft der Besucher – die Differenz z.B. zwischen einem antiautoritär geprägten Lehrer der Glockseeschule und einem durch gemeinsamen Formen und Werte geleiteten Montessorilehrer - ergeben differenzierte Blickwinkel und Einfärbungen der zurückgemeldeten Bilder. Die Fragen, die diese „kritischen Freunde“ stellen, die Bebachtungen, die sie mitteilen, die Anregungen, die sie vorsichtig formulieren, tragen die Chance auf einen ganz anderen Wirkung in sich als der Besuch des Schulrates oder gar Inspektors. Sie sind Angebote auf Augenhöhe. Und weil es – auf Grund der Unterschiedlichkeit der Herkünfte der Besucher – nie ein „konsistentes“ Bild ergibt, bleibt die Deutungshoheit bei der besuchten Schule. Die Differenz der Bilder fordert heraus. Oft sind noch Jahre nach einem Besuch die Provokationen der Zaungäste im Schulentwicklungsprozess präsent.

Vielleicht haben auch Sie als Schule Interesse daran, dem Netzwerk: „Blick über den Zaun“ beizutreten? Der Blick – diesmal nicht über den Zaun, sondern ins Internet – lohnt sich in jedem Fall:

"Blick über den Zaun"

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