Kunst, die sich selbst vermittelt

Ein Beitrag von Gabriele Hiller (Freie Waldorfschule am Kräherwald / Stuttgart)

Kunstvermittlung kann auch anders sein 

Sind Museen primär Orte der Wissensvermittlung, an denen einem Fachleute erklären, was man an einem Kunstwerk entdecken und wie man es sehen kann? Vielleicht liegt in diesem Ansatz auch eine Antwort auf die Frage, warum die meisten Jugendlichen nicht gern in Kunstmuseen gehen, weil es ermüde, zu anstrengend sei und sie sich dort ihrer Aussage nach schnell langweilen? Schnell schalten sie dann auch ab und suchen sich interessantere Beschäftigungen.

Oder sind Museen Orte der Erprobung und Entfaltung meiner eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten und -grenzen, mit Situationen, die mich überraschen, staunen lassen, mich in meiner Entdeckerfreude herausfordern und hoffentlich auch für meine aktive und sinnesintensive Beschäftigung mit dem dort Ausgestellten mit neuen Erkenntnissen und Empfindungen „belohnen"?

Geht es in der Kunstbetrachtung eher um die Frage: Was will der Künstler damit sagen? Was hat ihn vor so-und-soviel Jahren zum Schaffen getrieben, in welcher biographischen und historischen Situation befand er sich?  Oder eher darum das eigene Sehen am Kunstwerk wie neu herzustellen in einem Akt der Vergegenwärtigung, in dem ich das Kunstwerk „jetzt" erlebe und daran eine originäre Erfahrung mache, die mich sagen lässt: Ich habe das entdeckt!

Jean-Christophe Ammann nennt ersteres den Symptomgehalt eines Werkes (worauf verweist es?) und letzeres den Realitätsgehalt (worin besteht seine Einzigartigkeit?).

 

peer-group learning

Ein weiterer Schritt in dieser Richtung ist das noch stärker handlungsorientierte peer-group learning, bei dem sich jeder Teilnehmer sowohl als Lehrender als auch als Lernender erfährt, der Verantwortung für das eigene Lernen übernimmt  und im Dialog mit den anderen Teilnehmern seine Wahrnehmungen und Gedanken als treffend und wertvoll erlebt. Der Erwachsene, der Lehrer hat dann eher die Aufgabe, einen dafür geeigneten Rahmen zu schaffen und zu gestalten. 

 

Klasse 11A

Eine solche Situation gestaltete die Klasse 11A in der Staatsgalerie im Rahmen der Kunstepoche über moderne und zeitgenössische Kunst:

Im ersten großen Raum des Obergeschosses nahe dem Übergang in die Alte Staastgalerie befindet sich die Neuerwerbung des Hauses, eine zweiteilige Raum füllende Skulptur „Red Sea Crossing" von 2003 des britischen Künstlers Richard Deacon.

Ohne irgendwelche Vorkenntnisse vom fraglichen Werk oder Künstler zu haben verteilten sich die 19 Jugendlichen in einigermaßen regelmäßigen Abständen um die Skulptur herum und setzten sich auf den Boden. Jeder hatte ein farbiges Blatt Papier und einen Bleistift und erhielt die Aufgabe, sich das Werk von seiner Position aus ruhig und genau anzuschauen und dann einen Satz zu notieren, der diesen ersten Eindruck möglichst adäquat wiedergab und als Einstieg in einen Text dienen sollte. Anschließend wurde das Blatt an den Nachbarn zur rechten weiter gereicht und man selbst erhielt ein Blatt von links.

Nun ging es darum den ersten Satz des gerade erhaltenen Blattes so genau und ernsthaft wie möglich aufzunehmen und mit der eigenen Wahrnehmung in Beziehung zu setzen. Anschließend sollte dann ein zweiter Satz hinzu gefügt werden, der sich auf das Kunstwerk und auf den Satz des Vorgängers bezog, bevor das Blatt wiederum weiter wanderte.  

So kreisten die Papiere in fast lautloser, konzentrierter Arbeitsstimmung, einige Male auch unterbrochen durch Papierstau bei einzelnen Schreibern, bis jeder seines wieder erhalten hatte, „seinen" Text las und in einer Schlussrunde den anderen vortrug.

 

Begeistert von der Unterschiedlichkeit

Die Schüler waren überrascht und begeistert von der Unterschiedlichkeit und zugleich von der Aussagekraft der Texte: Es war weitaus mehr an treffenden Werkbetrachtungen entstanden, als je zu ahnen und zu erwarten gewesen war.

Das „andere Augenpaar", das zudem, wie hier bei einem komplexen plastischen Gebilde, das Werk von einer anderen Warte sieht, kann meine Sicht nur erweitern und neue Facetten hinzufügen. Bis in die sprachliche Tingierung hinein war zu beobachten, wie sich jeder einfühlsam auf den bereits existierenden Teil des Textes bezog.

Was Anfangs noch eher als angenehmer „Zeitvertreib" erschienen war, hatte nun Gewicht und war in der Lage, ohne dass vorab Informationen gegeben wurden oder ein Gespräch stattgefunden hatte, ein Werk in seiner Wirkung differenziert zu erfassen. Jeder der 19 Texte war inhaltlich, sprachlich und vom Charakter her anders und alle waren wesentlich.

Die unvoreingenommene Betrachtung hat vieles zum Vorschein gebracht, auch an Erinnerungsvorstellungen/Assoziationen, das bei herkömmlicher Herangehensweise gezielter Nachfragen bedurft hätte und sogar dann auf die Schüler „überinterpretiert" gewirkt hätte.  Nicht einmal der Titel der Arbeit war ja bekannt und doch traten verblüffend oft, je nach Sitzposition des einzelnen, Aspekte von Wellen, Wasser, Wirbeln und von dramatischen Geschehnissen auf.

Vier Beispiele können hoffentlich einen Eindruck von der Vielfalt der Texte vermitteln! Jede neue Zeile signalisiert den nächsten Schreiber.

 

Text I

Die Luft war schwer und bei jedem Atemzug drang eine unendlich große Zahl an Partikeln in die Lunge.

Schwarze Wolken überzogen den Himmel und es war heiß.

Der Balken schlang sich zu zwei Loopings heran.

Die Welle floss fortan.

Es folgte eine Drehung, eine Schraube, doch ein Ende war nicht in Sicht.

Die Woge kam immer näher und näher, bis sie die ganze Stadt schließlich mit sich riss.

Die Stadt wurde aber nicht zerstört, nur in Teile geteilt, die von der Welle umschlungen wurden.

Dann kam eine stärkere, riesenhafte Welle und zerstörte alles.

Doch die Stadt wurde wieder aufgebaut.

Jetzt noch stabiler und stärker, und zugleich bewegter und lebendiger.

Offener und freundlicher wurde die neue Stadt.

 

Bereits der erste Satz versetzt den Leser in eine dramatische und Situation und alle weiteren Schreiber greifen diesen Ton auf, begeben sich wie hinein in das Werk und empfinden sich darin. Rudolf Steiner nennt das „Intentionales Innesein" beim Kunsterleben. Auch das Spiel mit Kontrasten durchzieht den Text, obwohl ja für den Schreiber durch das Kreisen der Blätter wenig Zeit war das bisher Geschrieben zu reflektieren.

 

Text II

Groß und mächtig bäumte es sich vor mir auf mit all seinen komplexen Windungen und Kurven, in der Ferne immer kleiner werdend.

Ich war fasziniert und erschrocken zugleich. Es hatte eine außergewöhnliche Form und man konnte nicht sagen, was es darstellen sollte.

Eine Unendlichkeit von chaotischen Kurven und Windungen.

Fast wie ein Gedanke, der sich gerade bildet

Und von dem ich ein Teil bin. Eine Ordnung entsteht durch eine rechte und eine linke Hälfte.

Doch diese Ordnung wird durch die schwungvollen und hohen Skulpturen gebrochen.

Die sich wie Wellen auf und ab bewegen.

Die „Wellen" werden malgrößer und mal kleiner, mal dicker du mal dünner,

Mal schmaler, mal breiter, mal flacher, mal höher, mal länger, mal kürzer, mal roter, mal süßer und schließlich gar nichts mehr.

Ende

 

Dieser Text beginnt stärker bei einer Wahrnehmung, die aber sofort eine Empfindung auslöst. Von der Sinneswahrnehmung zur Sinnesempfindung. Auch Distanz und Nähe wechseln sich ab, bis sich der Schluss zu einem Crescendo steigert und dann abrupt stoppt.

 

Text III

Ich sehe mein Leben in zwei Teilen, einem größeren und kleineren, es windet sich kompliziert durcheinander, aber bleibt immer in zwei Hälften.

Trotzdem werden diese zwei Teile immer zusammen gehören.

Wurde dem Tischler klar.

Der mächtig stolz auf sich und seine Arbeit ist.

Er versuchte seine Gedanken zu verwirklichen.

Das schaffte er auch, genau nach seinen Vorstellungen.

Und vollendete sein Werk mit noch einigen weiteren Kurven.

Glücklich und zufrieden dachte er sich:

Ja, das ist ein Anfang! Jetzt schaffe ich es vielleicht sogar flüchtigste Bewegungen in klare Formen zu zwingen?!

Er überlegte, wie er dies Werk am besten benennen könnte, da es doch sehr komplex in seiner Erscheinung war.

Und er überlegte...

Da fiel ihm ein, dass es doch viel zu wertvoll sei für einen Namen, den er selbst auswählen sollte.

So ließ er den Namen von dem höchsten und mächtigsten Wesen geben:

Seinem Goldfisch.

 

Hier wird das Werk bereits im ersten Satz als ein Bild von Etwas als auf den Betrachter bezogen erlebt, alle Beschreibung fällt weg. Und der Künstler, hier ein Handwerker, wird in seinem Bemühen mit erlebt. Der Text geht dem Entstehungsprozessnach bis hin zur Titelfindung.

 

Text IV 

Heute ist ein schöner Tag um den Holzberg zu besteigen!

Er ist riesig und voll mit Schnee.

Es wachsen keine Pflanzen darauf und auch kein Gras.

Aber der Berg ist nie in Ruhe, er wogt und schwingt nach allen Seiten und gibt mannigfache Durchblicke in die Ferne.

Auf dem Holzberg wachsen aber Bäume, die ebenso groß und schwungvoll aussehen, doch eines Tages

Kam ein Sturm, der den Baumriesen noch mehr verkrümmte und ihn wie eine Schlange aussehen ließ.

Von Tag zu Tag wurde er krummer und die Äste berührten schon fast den Boden des Holzberges.

Als sie dies schließlich taten, wuchsen sie auf dem Boden weiter, wie Fische...es nicht tun.

Der Baum schlug frische Wurzeln, die in den Boden durch die Decke gingen.

Nichts ist nicht möglich.

 

Die erzählerische Ebene jedes Kunstwerkes wird hier ausgekostet bis ins Surreale, aber alles ist angebunden an konkrete Wahrnehmungen und die daraus entstehenden Empfindungen. Auch dass das Werk wie noch weiter in Bewegung wirkt, kommt zum Tragen.

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