Ziegen- Tierhaltung in der Schule

Ein Beitrag von Jörg Moosmann (Tübinger Freie Waldorfschule)

In der großen Pause rennen einige Fünftklässlerinnen den Weg hin­unter zum Ziegenstall. Heute haben sie etwas trockenes Brot und Mandarinenschalen mitgebracht. Sie klettern zu den Ziegen auf die Empore und füttern und streicheln die Tiere. Als der Gartenbaulehrer in den Stall kommt und den Ziegen mit einer Spritze etwas ins Maul einflößt, wollen sie wissen, was das ist. "Doping" vermuten ein paar Achtklässler, die vom Weg aus zusehen. Nein, das ist es nicht, son­dern homöopathische Medizin zur Entwurmung, die die Tiere zwei Wochen lang erhalten. Die Fünftklässlerinnen bewegt noch eine an­dere Frage: "Welche Ziege wird im Frühjahr Zicklein bekommen?" Nur Nanni wurde vom Bock gedeckt. "Hoffentlich werden es zwei und hoffentlich ist auch ein weibliches Zicklein dabei, welches wir dann behalten können", wünschen sie sich.

 

 

Als die Waldorfschule begründet wurde, war die Landwirtschaft und damit auch die Tierhaltung noch ziemlich allgegenwärtig. Erfahrun­gen mit Nutztieren waren daher für die meisten Menschen keine Seltenheit. Dies hat sich in der Zwischenzeit radikal verändert. Die Konzentration der Landwirtschaft mit oft geschlossenen Ställen auf wenigen großen Bauernhöfen hat diese nicht nur aus dem Blickfeld der Gesellschaft gerückt, sondern auch ihr eigenes Wesen stark ver­ändert. Auch beim Landwirtschaftspraktikum in der neunten Klasse machen sich diese Veränderungen in der Landwirtschaft bemerkbar. Aufgrund dieser schwindenden Erfahrungsmöglichkeiten mit Tieren in der Landwirtschaft erschien es mir lohnenswert, solche Erfahrungsmöglichkeiten dafür an der Schule zu etablieren. Wie aber kann das konkret aussehen? Natürlich muss man sich dabei den Ge­gebenheiten anpassen und manche Kompromisse in Kauf nehmen. Doch die wesentliche Einschränkung der landwirtschaftlichen Be­triebe, den ökonomischen Zwang, muss man nicht fürchten. Wir kön­nen an der Schule versuchen - frei von wirtschaftlichen Gesichts­punkten - eine möglichst stimmige Tierhaltung zu realisieren, zumindest, was die Mensch-Tier-Beziehung betrifft. Diese Chance wollen wir an unserer Schule mit der Bienen-, der Ziegen- und neu­erdings auch mit der Hühnerhaltung ergreifen.

 

Ziegenhaltung im Schulgarten

Der Anfang war sehr provisorisch: Ein ehemaliges Entenhäuschen, davor ein Dach aus Kunststoffplatten und Planen und ein dichter Holzzaun - so kamen die Ziegen durch den ersten Winter. Während­dessen wurde an dem neuen Stall gebaut: Schüler der 9. Klasse er­schlossen während der Landschaftsbauepoche das Gelände und be­gannen damit, den Zaun zu bauen. Mit den Schülern und Eltern der 3. Klasse wurden als Hausbauprojekt die Fundamente gegossen und der Sockel des Stallgebäudes gemauert. Für die zweistöckige Holz­konstruktion errechnete ein Zimmermann das notwendige Material und sägte die Balken zurecht. Der Aufbau wurde hauptsächlich von freiwilligen Eltern und Schülern geleistet. Ein Melkstand, auf dem zwei Ziegen seitlich angebunden werden können, wurde von Neuntklässlern errichtet, ebenso eine Zwischenetage mit kleiner Futter­raufe. Über eine von Neuntklässlern gebaute Rampe gelangt man auf den Dachboden.

Die Ziegen beweiden im Sommer mehrere Flächen auf dem Schulge­lände und betreiben darüber hinaus Landschaftspflege auf dem nahe gelegenen Holderfeld. Die Zäune wurden ebenfalls von Neuntklässlern gebaut. Im eigentlichen Gartenbauunterricht stehen die Ziegen nicht im Mittelpunkt. Sie werden von den Schülern jedoch gerne wahrgenommen. Dort, wo sich Gartenarbeit und Ziegenhal­tung überschneiden, kommen die Schüler in direkten Kontakt mit den Tieren. Das Gras, welches die Schüler mähen, wird den Ziegen in die Raufe gebracht. Auch die Zweige, die geschnitten werden, be­kommen die Ziegen zum Abfressen auf die Weide geworfen. Dafür erhalten wir das Gold des Bauern, den Mist. Er wird mit den Garten­abfällen zusammen kompostiert und hilft uns, die Fruchtbarkeit im Garten zu erhalten und zu steigern. Für die Schüler ist dies ein an­schauliches Beispiel für den Stoffkreislauf im Garten, der durch das Tier verbessert und intensiviert wird.

 

 

Die Ziegen-AG

Die Arbeiten, welche mit der alltäglichen Pflege der Tiere zu tun ha­ben, lernen die Schülerinnen und Schüler, die freiwillig in die Zie­gen-AG kommen. Sie lernen den Umgang mit den Tieren, gehen mit ihnen spazieren und haben jederzeit freien Eintritt bei den Ziegen. Zur Versorgung der Tiere gehört auch das Melken, welches einmal täglich stattfindet. Das Melken bringt uns in eine sehr intime Bezie­hung zum Tier, das uns mit seiner Milch ernährt, welche heutzutage kaum mehr so erlebt werden kann. Daher wird auch von Hand ge­molken. Die Schüler müssen dabei Geschicklichkeit und Kraft sowie ein einfühlsames Verhältnis zum Tier entwickeln, damit dieses sich gerne melken lässt. Man muss auch Willensstärke gegenüber dem Tier beweisen, damit es einen neuen Melker akzeptiert. In diesem Zusammenhang hat es sich bewährt, die Schüler erst einmal „in der Obhut" einer im Melken erfahrenen Person, die der Ziege vertraut ist, Erfahrungen sammeln zu lassen. Diese Person tritt der Ziege gegen­über als „Melker" auf, während die Kinder in Ruhe das Melken lernen können, da die Tiere so besser stillhalten. Mit der Zeit kann die Si­cherheit beim Melken sowie die Gewöhnung beim Tier zunehmen, so dass man Schritt für Schritt zur Selbstständigkeit dabei gelangen kann. Schüler ab Klasse 4, denen es ein Anliegen ist, das Melken zu lernen, können dazu durchaus in der Lage sein. Einige von ihnen haben sich bereits schon außerhalb der Ziegen-AG engagiert, indem sie an einem festen Wochentag oder manchmal am Wochenende und in den Ferien das Melken und die Versorgung der Tiere selbst­ständig übernommen haben. Es gibt auch immer wieder Erwachse­ne, welche das Melken erlernen und sich dabei engagieren. Zusätz­lich zu diesen alltäglichen Arbeiten lernen die Schüler der Ziegen-AG auch anfänglich die Milchverarbeitung zu Joghurt und Frischkäse, das Klauenschneiden bei den Ziegen, die Futterwerbung (indem z. B. Laubheu gemacht wird), die Weidepflege, den Umgang mit dem Elektrozaun und natürlich das Ausmisten kennen. Es wird dabei angestrebt, dass die Schüler aus Liebe zu den Ziegen auch solche notwendigen Arbeiten gerne verrichten lernen, die sie eigentlich Überwindung kosten.

Neben dem Melken kommt dem „Hüten" der Tiere eine besondere Bedeutung zu. Die Ziegen laufen sehr gerne und bleiben dabei in der Nähe des Menschen, weshalb sie in der Regel keine Leine benötigen. Es genügt, wenn sie bei Bedarf mit etwas trockenem Brot gelockt werden. Beim „Weiden" oder „Hüten" der Ziegen während eines Spa­zierganges oder einer Wanderung kann in ganz besonderer Weise das nahe Verhältnis der Haustiere zum Menschen erlebt werden, die diesem freiwillig folgen und sich führen lassen. Von Hunden ist man so etwas ja gewöhnt, aber bei Ziegen hinterlässt das schon einen tiefen Eindruck. Man kann den Hirten in sich entdecken und die Tie­re in Wald und Feld zu leckeren Futterplätzen führen. Dabei erlebt man das je nach Jahreszeit unterschiedliche Futterangebot. Das Hüten ist eine elementare und unmittelbare Erfahrung, bei der der Mensch in positiver Weise Verantwortung für seine Mitgeschöpfe, die Tiere, erleben kann - was in unserer Zeit kostbar geworden ist.

Die Ziegen-AG ist offen für Schüler ab Klasse 4, die durch ihre Kör­pergröße den Ziegen kräftemäßig gewachsen sind. Unsere Ziegen sind größtenteils genetisch hornlos (zwei Ziegen tragen Hörner) und in der Regel friedlich gegenüber Menschen jeden Alters und jeder Größe. Trotzdem kann es passieren, dass kleine Kinder in der Hektik umgerannt werden. Wir hatten auch schon Ziegen, die Kinder und sogar Erwachsene gestoßen haben. Der Charakter des Tieres ist hierfür entscheidend, nicht, ob die Ziege Hörner trägt oder nicht.

 

 

Ethik in der Tierhaltung

Es ist mir ein großes Anliegen, die Ziegenhaltung an der Schule so zu gestalten, dass die Schüler diese als wesensgemäß und erstrebens­wert erleben, damit sie einen positiven Bezug dazu entwickeln und sich selbst damit identifizieren können. Die Schönheiten der Tierhaltung sollen erlebt werden können, wel­che auf Produktionsbetrieben oft unzureichend zu finden sind. Dazu gehört auch, dass die Zicklein bei ihren Müttern aufwachsen können.

Eine entscheidende Frage ist auch diese, was passiert mit den Tieren, wenn sie hergegeben werden. Die Schüler hatten sie bereits ins Herz geschlossen. Schön ist es, wenn man einen geeigneten anderen Ort für sie finden kann, an denen es den Tieren gut geht. Doch das ist oft schwierig. Soll man die Tiere zum Schlachten geben? Gibt man sie irgendwohin, um die Verantwortung los zu sein? Die Kinder stellen zu Recht solche Fragen nach dem Verbleib der Tiere. Auch wenn sie selbst vielleicht gerne Fleisch verzehren und sich über regen Nach­wuchs bei den Ziegen freuen, darf uns dies nicht als Begründung dienen, diese Fragen nach dem Töten der Tiere zu ignorieren. Man könnte ja auch so fragen: Ließe sich Schlachten gänzlich vermeiden oder kann es auf eine für Tier und Mensch gleichermaßen würdige Art und Weise vollzogen werden? Da ich in diesem Punkt noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden habe, haben wir nun die Ge­burten stark reduziert. Es gibt deshalb nicht in jedem Frühjahr kleine Zicklein, sondern nur ab und zu. Die Ziegen, welche nicht wieder trächtig wurden, können dafür weiter gemolken werden, so haben wir auch im Winter Ziegenmilch. Das geht sehr gut - auch über mehrere Jahre.

Die enge Bindung der Haustiere an den Menschen wird beim Melken besonders erlebbar. Das Tier beschenkt uns mit der Milch, als ob wir sein eigenes Zicklein wären. Eine junge Ziege begann mit einem Jahr spontan Milch zu bilden, obwohl sie selber noch kein Zicklein hatte. Es war gerade Frühling, es gab frisches Gras und die kleinen Zicklein der anderen Ziegen sprangen umher. Wir begannen damit, die Ziege zu melken, welche ruhig dabei stehen blieb und den Melker sogar beschnupperte und abschleckte, wie es eine Ziege mit ihren Zicklein tut. Erst kam sehr wenig Milch, doch die Milchmenge steigerte sich schnell. Die Ziege blieb ruhig auf der Weide stehen, wenn Kinder zu ihr gingen und sich ein wenig Milch in den Mund molken. Nicht immer läuft es ganz so märchenhaft. Doch haben wir bereits bei drei Ziegen mit dem Melken begonnen, ohne dass jene jemals davor trächtig gewesen wären - manche wurden es dann später. Dies widerspricht der landläufig verbreiteten Meinung, eine Ziege oder eine Kuh müssten jedes Jahr ein Zicklein beziehungsweise ein Kälbchen bekommen, sonst würden sie keine Milch geben.

 

Schlussbemerkung

Ich hoffe, dass es gelungen ist, eine gewisse Vorstellung davon zu vermitteln, was es für den Schulalltag bedeutet, wenn Tiere an der Schule gehalten werden. Viele Kinder, welche nachmittags an der Schule betreut werden, profitieren besonders davon. Die Nachmit­tagsgruppe des Kindergartens geht regelmäßig die Ziegen „begrü­ßen" und aus dem Ganztageshort verbringen einige Schüler gerne ihre freie Zeit im Ziegenstall oder auf der Weide. Die vierten Klassen warten momentan ungeduldig darauf, endlich die Hühner versorgen zu dürfen. Auch bei Vertretungsstunden ist ein Ziegenspaziergang eine willkommene Abwechslung. Gerade in einer Zeit mit fast un­begrenzten virtuellen Angeboten tut es gut, auch echte Stallluft schnuppern zu können!

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