Die Informations-Illusion

Aus dem Buch „Das Megatrend-Prinzip" von Matthias Horx

Eine Front, an der der Glaube an die technische Zukunft unge­brochen scheint, ist die Informationstechnologie. Wer wollte die irrwitzigen Fortschritte im Reich des Computer- und Kommuni­kationstechnik bestreiten? [...]

Um das Problem zu verstehen, müssen wir verstehen, was »Wis­sen« bedeutet. Grob vereinfacht ausgedrückt, ersetzt das Internet

a) Wissen durch ständig verfügbare Information und

b) zielgerich­tete Kommunikation durch unendlich erweiterte Kommunikati­onsoptionen.

 

Wenn wir Texte auf E-Readern lesen, lesen wir tatsächlich oberflächlicher, als wenn wir ein Buch lesen - das haben erste Ver­gleichstests ergeben. Wenn wir oft online sind, merken wir uns Fakten weniger gut. Denn die »Suchmaschine« lässt uns Inhalte aus dem Hirn auslagern - wir können ja jederzeit googeln. Inzwi­schen hat sich ein griffiger Ausdruck dafür gefunden: digitale Demenz.

Wissen entsteht in einem ständigen Rekursionsprozess und Fil­tern dessen, was ich weiß, was ich sehe und höre und was ich davon glaube oder wichtig finde. Echtes Wissen entwickelt sich immer schichtenweise. Ich nehme Informationen auf und baue daraus in meinem Kopf ein Modell, mit dem ich nun die Welt betrachte und das mir hilft, sie vorherzusagen. Durch ständiges kritisches Überprüfen und Abgleichen mit neuem Faktenwissen entwickelt sich Kompetenz. Wissen ist daher mehr als reine »Speicherung« von Fakten, das macht auf Dauer keinen Sinn, zum Wissen gehört das Erproben durch Handeln.

Das Internet macht den Wissenserwerb einerseits leichter. Ich kann, wenn ich Informationen brauche, unendlich viel mehr davon erreichen. Aber es kann den Verdichtungsprozess auch korrum­pieren. Wir vergessen irgendwann die Frage, die wir hatten (für deren Beantwortung wir Information benötigen). Jeder kennt den Zustand des »leeren Surfens«, in dem man ohne Ziel und Richtung von Website zu Website springt. Das Hirn ist bei diesem Prozess »semi-erregt«, aber es lernt nicht.

Ein Massenmedium filtert Inhalte und zwingt deshalb den Leser/Hörer/Seher zu einer komplexen Grundsatzentscheidung. Will ich dieser Zeitung glauben? Sind die Journalisten glaubwürdig? Diese Filterung entlastet. Sie macht uns nach dem Vertrauensprinzip produktiver.

Durch das Internet fällt die Filterfunktion plötzlich wieder auf das Individuum zurück. Öffentlichkeiten, die durch Kompetenz und Expertentum zusammengebunden waren, können (wieder) auseinandergerissen werden. Das unterstützt das Einengen von Interessen - es ist leicht, sich nur noch für das zu interessieren, was man schon kennt. Statt Individualisierung von Wissen ent­steht so eher eine Atomisierung von Wissen. Aber »wahres Wissen« ist immer auch etwas Soziales; ein Muster, das man mit anderen Menschen teilt.

Ein weiteres Problem hat mit den begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Hirns zu tun, Störungen zu absorbieren. Die Leitwis­senschaft der Zukunft ist vermutlich die Aberratiologie - die Lehre von den Ablenkungen. Auf eine geheimnisvolle Weise ermöglichen Computernetzwerke in Krankenhäusern offenbar nicht, dass man sich mehr um die Patienten kümmert und unnütze Bürokratie rationalisiert. Im Gegenteil. Informelle Vernetzung, so ahnen wir, führt in vielen Fällen direkt in ein Stör-Universum.

Das menschliche Hirn braucht drei bis fünf Minuten, um sich auf eine komplexere Aufgabe zu konzentrieren. Die »Störungsrate« in modernen, kommunikativ-informell geprägten Arbeitswelten liegt jedoch bei etwa elf Minuten. Alle elf Minuten werden wir durch einen Kommunikationseinbruch unterbrochen. Jeder kann das in seinem Arbeitsumfeld überprüfen. Fax, E-Mail, Telefonate, die Kinder, der Anruf von zu Hause, der Paketbote kommt, Twitter, Facebook, wo ist die verdammte Batterie für die Funkmaus...

Das Problem geht dort weiter, wo das menschliche Hirn zwischen Information und Kommunikation in eine massive Irritation gerät. Informationen lassen sich priorisieren, organisieren und »abarbei­ten«. Kommunikationen verlaufen in Jetztzeit. Wenn meine Frau mich anruft - will sie dann mit mir kommunizieren oder mir eine Information mitteilen (was ich im Prinzip verschieben könnte, wenn es nichts Dringendes ist)? Die rund um die Uhr offenen Kanäle der modernen Medienwelt lassen uns »rotieren«: Ständig sind wir damit beschäftigt, Kommunikation zu klassifizieren. Spreche ich auf den Anrufbeantworter oder schicke ich eine SMS? Antworte ich auf die Mail sofort oder später? Die Netzwerk-Technik macht uns zu einer Art Sortierpostamt von Aufmerksamkeiten.

Als Antwort scheint sich das viel gelobte »Multitasking« anzu­bieten. Aber wenn wir mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen wollen, werden wir in allen Aufgaben sehr viel langsamer und uneffektiver. Praktisch alle weltweiten Tests und Studien zum Multitasking haben erwiesen, dass bei der Teilung von Aufmerk­samkeiten alle Teiltätigkeiten rapide verlangsamt und schlechter ausgeführt werden. [...]

Die schwierige Wahrheit ist: Durch moderne Kommunikati­onstechnologien entsteht ein Strukturkonflikt zwischen Kreativität und Vernetztheit. Jeder Autor, Künstler, Manager weiß: Kreativität braucht immer wieder Konzentration, Rückzug, Kontemplation, Eindeutigkeit. Vernetztheit im digitalen Sinn wird aber in der Regel als »Echtzeitverfügbarkeit« (miss)verstanden. In Netzen kann man sich eben auch verstricken!

Einer der Apologeten des digitalen Zeitalters hat auf einer Internetkonferenz unter dem Jubel des Publikums folgende Betrachtung über den Segen der vernetzten Informationswelt zum Besten gegeben: »Wenn jemand eine Krankheit hat, weiß er nach zwei Stunden surfen mehr als sein Arzt! Dasselbe gilt für Anwälte und Lehrer, Autoverkäufer oder Service-Point-Mitarbeiter. Diese Berufe sind wirklich nicht nötig!« Wieder einer, der Informationen mit Wissen verwechselt. Wieder einer, der nicht verstanden hat, was Profession, Erfahrung, Intuition und Können wirklich bedeuten.

All dies spricht nicht gegen das Internet und seine verändernde Kraft. Es spricht nur gegen das Internet als Erlösungsphantasie. Das Internet ist am Ende ein profanes Medium wie alle anderen auch. Wir können davon ausgehen, dass seine Exzesse überwunden wer­den. Wir lernen immer, mit neuen Medien umzugehen. Aber es dauert. Und ist eben keine technische Frage. Das Entscheidende am Internet ist nicht die technische Seite, sondern die Frage, ob wir Kulturtechniken erlernen können, die es tatsächlich zu einem Pro­duktivmedium werden lassen. Die Netzwerkrevolution, so ahnen wir in hellen Momenten bisweilen, steht erst an ihrem Anfang. Wir üben noch, was wir mit den unglaublichen Möglichkeiten des Datenraums anfangen können. Und wie das immer so ist bei Anfän­gern: Es klingt meistens ziemlich schräg.

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