ROMANTIKEPOCHE der Klasse 11

Ein Beitrag von Mischa W. Weggen aus dem Jahrbuch der Freien Waldorfschule Greifswald

Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.

 

Diese Verse sind von Joseph von Eichendorff, aber wir finden sie in vielen Poesiealben wieder. Wer empfindet so, wer schreibt einen solchen Vierzeiler? Doch nur ein Mensch, der den Riss empfindet, der durch die moderne Welt geht - und der gleichzeitig spürt, dass dieser Riss nicht bestehen muss, dass er heilbar ist. Dies ist eine Empfindung, die wir alle einmal hatten, die uns im Jugendalter zum ersten Mal kommt, wenn wir uns an die schöne Welt der Kindheit nur noch wie durch einen Schleier hindurch erinnern können und wir die Welt des Erwachsenseins noch nicht vollständig erreicht haben, diese aber bereits konkret sichtbar ist, auch mit ihren Hässlichkeiten. Wir könnten also sagen, dass wir im siebzehnten, achtzehnten Lebensjahre alle einmal Romantiker waren.

Wenn wir erkannt haben, dass die neue Welt, in die wir beim Erwachsenwerden eintreten, nicht so schön ist, wie sie sein sollte, wird sich uns hoffentlich der Wunsch einstellen, sie zu verändern, zu verbessern, nach dem zu suchen, was sie verständlich macht und was sie uns erklärt - nach dem „Zauberwort", von dem Eichendorff spricht. Für dieses Zauberwort kann es viele Namen geben: Es kann „Liebe" heißen, „der Gral" oder „Gott" - in der Zeit der Romantik nannten es viele Menschen „die blaue Blume". Diese blaue Blume, dieser Leitstern ist es, nach dem die Romantiker suchten, und nach der auch wir einmal gesucht haben - manche nur kurz, manche gaben auf, manche glauben, ihre blaue Blume gefunden zu haben, und manche suchen ihr Leben lang. Die Schüler der elften Klasse jedenfalls brachen gerne auf zu einer Reise, bei der wir uns - zum zweiten Mal, nachdem wir im gleichen Schuljahr schon Parzival begleitet hatten - auf die Suche danach machen wollten, was „die Welt im Innersten zusammen hält" - nach der blauen Blume eben.

Als Grundlage der Epoche dienten vor allem zwei sehr verschiedene Werke: Joseph von Eichendorffs Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts" und Novalis' Abhandlung „Die Christenheit oder Europa". Die beiden Texte sind sehr unterschiedlich in Form, Sprache, Inhalt und Anspruch. Eichendorffs „Taugenichts" ist eine Novelle in einfacher Sprache, sie ist für die Schüler vor allem aufgrund ihres Inhaltes interessant: Der jugendliche Held der Erzählung zieht fröhlich und unbedarft in die Welt, um sein Glück zu machen - es handelt sich also im weiteren Sinne um ein Parzival-Motiv, das hier noch einmal in verwandelter Form anklingt. Novalis' Aufsatz über die „Christenheit" ist ein sehr schweres Dokument. Er stellt die christliche Tradition des Abendlandes als Ursprung der Romantik heraus und die Wiedergewinnung dieser Christlichkeit in verwandelter Form als ihr Ziel. Als historischer Sachtext kann der Essay den Schülern einerseits eine Vorstellung von der theoretischen Dimension der Romantik liefern, zum anderen die Grundlage zur Bildung eigener Gedanken sein. Hier sind einige sehr eindrucksvolle Aufsätze entstanden. In der Epoche wurde der Versuch unternommen, die Schüler je nach ihren Möglichkeiten und nach ihrer Selbsteinschätzung, also den Bedürfnissen jedes einzelnen, stärker am einen oder am anderen Text arbeiten zu lassen. Diese Binnendifferenzierung sollte es uns auch ermöglichen, am Ende der 11. Klasse, wenn langsam die staatlichen Schulabschlussprüfungen herannahen, jeden dort üben zu lassen, wo seine Fähigkeiten und Möglichkeiten liegen.

Hauptmotiv für die Auswahl beider Texte war dennoch wieder die ähnliche innere Verfasstheit der „Helden" und der Leser: Parzival, Taugenichts und der Autor der „Christenheit" suchen ihre jeweiligen Leitsterne - die jungen Schüler eben auch.

Wie in jeder Epoche haben wir auch diesmal versucht, uns nicht nur intellektuell, sondern auch künstlerisch dem Thema zu nähern, etwa durch die Einstudierung verschiedener Sätze romantischer Kunst- und Volkslieder oder durch Vorträge der Schüler, in denen beide Methoden sich durchdrangen.

Eine kleine Exkursion führte uns zur Klosterruine Eldena, wo wir einige Schülervorträge hörten und auch Novalis' erste „Hymne an die Nacht" rezitierten, die wir als Dichtung mit Rudolf Steiners Morgenspruch für die oberen Klassen verglichen.

Natürlich liegen in der Romantik auch mancherlei Gefahren. Einerseits wurde sie während der Befreiungskriege hemmungslos nationalistisch, andererseits kann die Lust am Schemenhaften und Nächtlichen natürlich auch die strahlende Klarheit der Erkenntnis und Begriffsbildung, um die sich die Klassik, die der Romantik ja vorangegangen war, bemüht hatte, vernebeln und auslöschen. Wenn wir genau hinsehen, finden wir in dem, was Nationalismus etwa bei Arndt und Körner wurde, den eigentlichen Ausgangspunkt der Romantik auch nicht: Arndt sucht die blaue Blume eben nicht mehr.

In einer Zusammenschau stellen wir fest, wie sich die genannten vier Wege auf der Suche nach der blauen Blume zu einem harmonischen Ganzen fügen: Novalis' tiefe Bemühungen um eine neue Spiritualität hat einen melancholischen Zug, die vielen Eichendorff'schen Wandergedichte, die die deutsche Romantik ja auch kennzeichnen und in denen sie bis heute fortlebt, sind in gewisser Weise sanguinisch. Auch „Taugenichts" ist Sanguiniker, wenn er singt: „Die Trägen, die zu Hause liegen, erquicket nicht das Morgenrot...". Viele Bilder Caspar David Friedrichs ziehen uns mit ihrer Technik der Rückenansicht geradezu ins Bild hinein, wir zerfließen in die Landschaft, breiten uns seelisch aus wie die weiten Himmel: Ein ganz phlegmatischer Zug. Das cholerische, rauschhafte Temperament ist der romantischen Seelenhaltung am wenigsten verwandt; was cholerisch war, hatte, wie schon angedeutet, schnell die Tendenz, eigentlich un-romantisch zu werden; jedenfalls gehört das Dionysische, rauschhafte Element der Romantik in diesen Bereich. Diese Betrachtung in Richtung der Temperamente muss nicht zu sehr ausgewalzt werden, aber es ist dennoch interessant zu sehen, wie auf ganz verschiedenen Wegen die Suche nach der blauen Blume ihre Ausprägung fand.

Am Ende der Epoche stellten wir Klassik und Romantik noch einmal gegenüber und versuchten, uns anhand der beiden Richtungen der Kulturentwicklung, die sich ja weitgehend gleichzeitig entwickelten, einen Begriff vom Dualismus des Apollinischen und Dionysischen zu bilden, auf dessen Grundlage dann Wert und Wehe dieser beiden und mancher anderen Geisteshaltung eingeschätzt werden kann.

Die Romantik liebte die gedankliche Tiefe, und es ist erstaunlich, welchen gedanklichen Tiefgang viele Schüler während dieser Epoche an den Tag legten. Neben dem literaturgeschichtlichen Kenntnisgewinn mag so vielleicht bei manchem noch eine echte Erkenntnis entstanden sein: Die Konsequenz aus der Einsicht, dass die schlichte, schöne Welt des Mittelalters oder der Kindheit versunken ist und nicht zurückkehrt, muss doch sein, die Welt von heute zu gestalten! Und so können wir mit Novalis schließen:

Wir sind auf einer Mission: Zur Bildung der Erde sind wir berufen.