Die erste Herznaht

Ein Beitrag von Moritz Weinbeer (Freie Waldorfschule Tübingen)

Als Einleitung zur Menschenkunde-Epoche der 10. Klasse (innere Organe) bietet es sich an, über die erste Herznaht in der westlichen Kultur zu berichten. Diese wurde von Prof. Ludwig Rehn in Frankfurt / Main Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt.

Der von ihm darüber abgegebene Bericht (Archiv für klinische Chirurgie, Berlin 1897; Vol. 55, Seiten 315-329) zeigt sehr deutlich, dass es in der damaligen Zeit verpönt war, eine Herznaht überhaupt in Betracht zu ziehen. Dies hat seine Begründung wohl darin, dass das Herz als etwas Unantastbares galt - bis hin zu Gedanken, dass es Sitz der Seele sei.

Bei der Betrachtung der Beschreibung des Krankheitsverlaufes kann man auch schön auf den Pneumothorax bzw. Hämothorax eingehen, der dem Patienten es nicht mehr erlaubte, mit dem linken Lungenflügel zu atmen (Anknüpfung an Physik-Epoche mit Vakuum-Kugel!). Damit hat man schon zwei Organe der Epoche angesprochen; das Blut, das dabei natürlich eine Rolle spielt, wäre im Bunde das dritte!

 

Über penetrirende Herzwunden und Herznaht

Von Professor Mr. L. Rehn

In einem verzweifelten Fall von Stichverletzung des rechten Ventrikel wurde ich durch die andauernde Blutung zum Eingreifen gezwungen. Ich wollte das Möglichste thun, um den Kranken zu retten und so kam ich im Lauf der Operation in die Notwendigkeit, eine Herznaht auszuführen. Es blieb mir kein anderer Weg, so schwer er war, denn der Patient hätte sich unter meinen Augen verblutet.

Der Chirurg wird sich bei der Durchsicht der später folgenden Krankengeschichte in meine Lage versetzen können. Was wäre Alles zu überlegen gewesen, wenn man Zeit gehabt hätte! So drängten die gegebenen Verhältnisse unwiderstehlich zu einem raschen Entschluss. Die grossen technischen Schwierigkeiten wurden überwunden und schon der momentane Erfolg der Herznaht würde mir den Muth gegeben haben, in einem ähnlichen Falle wieder zur Herznaht zu greifen. Ich habe das Glück gehabt, den Kranken mit Ueberwindung mannigfaltiger Gefahren gesund werden zu sehen. Ob spätere Folgen der Verletzung und des Eingriffs eintreten, das will ich, soviel ich kann, getreulich, berichten. Einstweilen kann ich feststellen, dass ohne die Herznaht der Kranke verloren gewesen wäre. […]

 

Die Krankengeschichte ist folgende:

Der Gärtner W. J., 22 J. alt, wurde um 31. Aug. 1896 wegen Herzbeschwerden, bestehend in unregelmässiger, sehr erregter Herzaction, vom Militär entlassen. Am 7. Sept. Nachts erhielt er auf der Promenade einen Messerstich und stürzte sofort bewusstlos zusammen. Nach dreistündiger Ohnmacht kam er zu sich, schleppte sich mühsam 300 Schritte fort und sank wieder um. Ein Vorübergehender benachrichtigte das nächste Polizei-Revier. Die Schutzleute fanden ihn leichenblass, mit kaltem Schweiss bedeckt, nach Athem ringend. Er konnte nur mühsam seinen Namen nennen. Nachts halb 4 Uhr kam er in das städt. Krankenhaus.

Befund: Mittelgrosser, gut gebauter Manu, dessen Kleider über und über mit Blut bedeckt sind. Er ist schwer collabirt und todtenbass. Puls kaum zu fühlen, frequent und aussetzend. Es besteht grosse Athemnoth. Im 4. linken Intercostalraum, drei Querfinger breit vom Sternalrand, befindet sieh eine, den Rippen parallel laufende, nicht blutende Wunde. Dieselbe ist 1,5 Clm. gross und klafft. Die Herzdämpfnng ist nach rechts verbreitert. Die Herztöne sind rein. Lungenbefund, soviel untersucht werden kann, normal.

8. 9. früh. Pat. hat sieh etwas erholt. Das Sensorium ist freier, der Puls kräftiger, 124. Temp. 37,6. Auch die Dyspnoe hat sich etwas gebessert. Nachm. 4 Uhr. An der linken Brusthälfte hat sich eine Dämpfung entwickelt, welche hinten bis zur Höhe des 7. Brustwirbels reicht.

Herzdämpfung: Linke Grenze: Mammillarlinie, rechts: Mitte des Sternum, oben: unterer Rand der 4. Rippe. Spitzenstoss verbreitert. Die Herztöne sind rein, namentlich laut auf der rechten Seite zu hören. Resp. 64. Puls 120. Pat. muss catheterisirt werden.

Ord.: Ruhe, Eisblase, Campher-lnjection. Nachts war Pat. sehr unruhig, stöhnt viel. Temp. 38,2. Resp. 68.

9.9. Entschiedene Verschlechterung des Befindens. Puls klein und unregelmässig. Die Herzdämpfung hat nach rechts hin zugenommen und geht nach links in eine Dämpfungsgrenze über, welche sich nach oben bis zur Achselhöhle fortsetzt. Resp. 76. 7 Uhr Abends: Der Puls ist noch schlechter geworden, die Athmung enorm beschleunigt und oberflächlich. Die Dämpfung links ist gestiegen. Eine Probepunction förderte dunkles Blut zu Tage.

Von der Reise zurückkehrend sehe ich jetzt den Patienten. Er machte den Eindruck eines Sterbenden. Es besteht Oyanose — enorme Dyspnoe mit Nasenflügelathmen. Resp. 76. Puls elend, äusserst beschleunigt, aussetzend. Die linke Brusthälfte betheiligt sich kaum bei der Athmung. Sie ist gedämpft, fast bis zur Lungenspitze. Das Herz ist nach rechts gedrängt. Seine Töne sind rein! Die kleine Stichwunde im 4. Intereostalraum pulsirt deutlich. Ihre Umgebung ist sehr lebhaft druckempfindlich.

Diagnose: Rasch wachsender Hämothorax.

Es entstand nun die Frage: Was ist verletzt? Das Herz oder seine grossen Gefässe, die Intercostalis, Mammaria? Dr. Siegel hatte mittelst der Sonde festgestellt, dass die Richtung des Wundcanals nach dem Herzen führte. Ich entschloss mich, die Blutstillung zu versuchen.

Operation: 14 Ctm. langer Schnitt im 4. linken Intercostalraum. Die 5. Kippe wird etwas einwärts von der Mammillarlinie durchschnitten und in ihrem Sternalansatz nach innen umgebogen. Es kommt dunkles Blut zum Vorschein. Der eingeführte Finger dringt in die Pleurahöhle und direct auf den Herzbeutel. Art. mammar. ist unverletzt. Die Plenra wird weit geöffnet. Es entleert sich massenhaft dunkles Blut und Luft tritt ein. Die Narkose wird ausgesetzt. Der Herzbeutel ist jetzt gut zu übersehen. Man bemerkt leicht eine kleine Stichwunde, aus welcher ohne Unterbrechung dunkles Blut strömt. Das Pericard wird mit Klemmzangen gefasst, um es in die Wunde zu bringen. Die Umgebung der Wunde reisst ein. Venöses Blut bedeckt das Gesichtsfeld. Erst nachdem der Herzbeutel noch ein Stück quer eingeschnitten, halten die Klemmen. Das Herz liegt nun in grosser Ausdehnung frei. Seine Bewegung in dem sehr ausgedehnten Herzbeutel ist ausserordentlich. Aus der Tiefe des Herzbeutels entleert sich fortgesetzt Blut und Gerinnsel. Das hindert nicht, dass man in der Diastole eine ca. 1,5 Ctm. grosse Wunde im rechten Ventrikel erkennen konnte. Sie scheint etwa in der Mitte desselben zu liegen, hat glatte Ränder und klafft. Ein der Grösse der Wunde entsprechender Blutstrom quillt aus dem Herzen. Der aufgelegte Finger beherrscht die Blutung. Von Blutaustritt während der Systole kann nichts wahrgenommen werden, obwohl der Finger bei der rapiden Bewegung vom Herzen abgleitet. Man hat Zeit, sobald das Herz in seine diastolische Lage zurücksinkt, die Wunde mit dem Finger zu verschliessen. Die Herzbewegungen wurden durch das Anlegen des Fingers nicht alterirt.

Man wird begreifen, dass die Sachlage nicht geeignet war, genaue Betrachtungen am Herzen anzustellen. Immerhin konnte Einiges festgestellt werden, was vielleicht von Interesse ist. Am auffallendsten war die ansserordentliche Bewegungsexcursion von links nach rechts, sodass neben der Rollung noch eine rein seitlich nach rechts gerichtete Bewegung stattzufinden schien. Eine solche Excursion kann nur bei sehr erweitertem Herzbeutel stattfinden. In der Systole, welche rapid einsetzte, wurde der Herzmuskel steinhart, der rechte Ventrikel verschwand unter dem Sternum, während der linke nach vorn zu liegen kam. Die Herzspitze rückte herauf. Dann sank das Herz in umgekehrter Bewegung schlaff in die Diastole zurück. Die Diastole währte länger als die Systole. Ich entschloss mich rasch zur Naht der Herzwunde. Es wurde eine feine Darmnadel mit Seidenfaden benutzt. Bei Beginn der Diastole wurde im linken Wundwinkel rasch und tiefgreifend die Nadel durchgeführt. Es schien mir, als ob die Diastole dadurch verlängert würde. In der folgenden Diastole wurde der Faden angezogen. Das Herz schien wieder ein Moment länger in Diastole zu verharren. Es war tröstlich, dass nach Knüpfen der ersten Ligatur die Blutung wesentlich schwächer war. Durch Anziehen der ersten Fadenschlinge wurde die Anlegung der 2. Knopfnaht bedeutend erleichtert. Es war nur ängstlich, dass das Herz bei jeder Fixierung in Diastole still zu stehen schien. Nach der 3. Naht, welche besonders schwierig war durch die Herzbewegung, stand die Blutung vollkommen. Das Herz arbeitete weiter und wir konnten anfathmen. Der Assistent meldete, dass der Puls entschieden besser sei.

Die Pleurahöhle wurde mit Kochsalzlösung ausgespült, um möglichst die Blutgerinnsel zu entfernen. Herzbeutel und Pleura wurden mittelst Jodoformstreifen drainirt. Darauf wurde das Rippenstück znrückgeklappt und die Weichtheilwunde durch Nähte verkleinert.

Das Befinden des Patienten nach der Operation war bemerkenswerth. Die Athemfrequenz betrug statt 76 nur 48 p. M. und sank in den nächsten Stunden auf 34—32—28. Puls 112—l32, ungleich in seiner Stärke. Pat. liegt ganz ruhig und schläft viel. Er wird von Zeit zu Zeit durch anfallsweise Schmerzen aufgeweckt. Der Schmerz wird, vorn am linken Rippenbogen localisirt; er hält etwa fünf Minuten an und vertiert sich wieder. Am 10. 9. steigt die Temp. auf 38,7. Der Tampon verstopft die Pleurahöhle. Nach seiner Entfernung entleert sich reichlich blutig gefärbte Flüssigkeit. In der Gegend der Herzspitze hört man leichtes Reiben, welches jedoch in der Folge nicht mehr nachzuweisen war. Pat. muss catheterisirt werden. Es besteht andauernd Brechneigung. 11.9. Temp. normal. Der Verband muss öfters erneuert werden. Puls 130—140. Resp, 18—36. 12.9. Pat. entleert spontan Urin, sonst Zustand wie gestern. 15.9. wird der Puls sehr unregelmässig. Es scheint, als ob die Camphereinspritzungen den Puls ungünstig beeinflussen. Sehr günstig wirken kleine Morphiumdosen. Wegen Luftmangel werden O-Inhalationen verordnet. Abends leichte Temperatursteigerung. 17. 9. Abend-Temperatur 36,6. 19.9. Abend-Temperatur 39,7. Eine genaue Untersuchung ergiebt keinen Anhaltspunkt für Pericarditis. Dagegen ist das Pleurasecret eitrig, das dicke Drainrohr verlegt sich durch die Fibringerinnsel. Erst nachdem in der Folge eine Gegenöffnung am Rücken gemacht war, ging das Fieber langsam zurück. Die Ausdehnung der Lunge liess noch länger auf sich warten. Bemerkenswerth in der Reconvalescenz war die ausserordentliche Erregbarkeit der Herzaction. Sie ist noch bis auf den heutigen Tag vorhanden. Lange Zeit hindurch empfand Pat. Athembeschwerden und schmerzhaftes Ziehen in der linken Brust. Der Wundverlauf wurde complicirt durch die Eiterung in der Pleura, während die Pericardialhöhle sich sehr rasch abgeschlossen hatte. Es erscheint mir wichtig, in ähnlichen Fällen nach dem Rath von Eiselsberg`s die Ränder des Pericards nach aussen zu nähen.

Ich bin heute in der glücklichen Lage, Ihnen den Patienten geheilt vorzustellen. Sein Aussehen ist vortrefflich. Ich habe ihm noch nicht erlaubt, sich körperlich anzustrengen. Er beschäftigt sich mit leichten Arbeiten. Das Herz arbeitet regelmässig, also besser wie vor der Verletzung. Die grosse Erregbarkeit desselben ist geblieben. Aus verschiedenen Gründen muss ich annehmen, dass irgendwie ausgedehnte percardiale Verwachsungen nicht bestehen. Vor einigen Wochen war ein Geräusch an der Pulmonarklappe zu hören. Dann verschwand es wieder. Der Patient hat demnach alle Aussicht, gesund zu bleiben.

M. H.! Die Ausführbarkeit der Herznaht dürfte wohl von jetzt ab nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Gegen die Zweckmässigkeit der Naht brauche ich wohl auch keine Einwendung zu fürchten; denn der Eingriff wirkte nicht nur direct lebensrettend, sondern auch die spätern Folgen der pericardialen Verwachsungen scheinen glücklich vermieden. Ich hoffe aber zuversichtlich, dass dieser Fall nicht etwa ein Curiosum bleibt, sondern dass er die Anregung giebt, auf dem Gebiete der Herz-Chirurgie weiter zu arbeiten. Ich spreche nochmals meine Ueberzeugung aus, dass durch die Herznaht manches Leben erhalten werden kann, welches bisher als verloren gelten musste.