Gedanken zur Waldorfkindergartenpädagogik

Ein Beitrag von Erika Gdynia

Von der Kraft der Nachahmung - Gedanken zum 1. Jahrsiebt

Heute entfernen sich die Menschen immer mehr von der instinktmäßig richtigen Umgangsweise mit den Kindern. Es mangelt weitgehend an der gesunden, förderlichen Umgebung, in der das Kind die in ihm veranlagten Möglichkeiten „wie von selbst" entwickeln kann. Eher haben die Eltern zu kämpfen mit den vielen unguten Einflüssen unserer modernen Zivilisation, und es fehlt ihnen an Orientierungshilfen, wie sie in „dieser Welt" trotzdem noch gesunde Kinder erziehen können. Technik, wirtschaftsorientiertes Zweckdenken und die Entfremdung von geistigen bzw. religiös-ethischen Lebensgrundlagen bestimmen mehr und mehr die Handlungen der Menschen.

Der Erwachsene, welcher mit Kindern zu tun hat, muss heute viel bewusster seine Erziehungsaufgabe durchdenken und mit ganzer Verantwortung ergreifen. „Die sozialen Erneuerer der Zukunft müssen unsere Kinder sein" (Rudolf Steiner).

Wie aber können sie fähig werden, ihre Lebensaufgabe aus sozialen, künstlerischen, religiösen Impulsen so zu gestalten, dass diese dem Wohl des Ganzen dienen kann? Die Waldorfpädagogik bietet in dieser Verunsicherung die praktische Hilfe durch Kindergärten, Schulen, Heime usw. an und gibt den Eltern die Möglichkeit, neue Denkansätze durch Elternabende, Vorträge, Arbeitskreise und Literatur kennenzulernen und selbst zu erarbeiten und zu erleben.

 

Die Waldorfpädagogik im Kindergarten

Welches ist nun der eigentliche Grundgedanke der Waldorfpädagogik? Es ist die Orientierung am Menschen selbst. Einer der leitenden Dozenten am Waldorfkindergartenseminar, Helmut von Kügelgen, drückt es folgendermaßen aus: „Durch Rudolf Steiner gibt es eine wissenschaftliche Arbeit am Menschenbild, die zugleich Wissenschaft ist und Liebe erweckt, die von Geist, Seele und Leib weiß. Es ist die Anschauung von den Entwicklungsgesetzen des Heranwachsens, der Selbstfindung, der Inkarnation, was die besondere Erziehergesinnung bildet. In ihr sind die Gedanken an das Bild vom Menschen und an das Menschwerden zugleich Lebenspraxis, Methodik und Didaktik, ja ein Quell von Interesse und sich erneuernden Liebeskräften. Deswegen soll auch diese Gesinnung, dieses lebendige Bild vom Menschwerden, das Verhalten des Erziehers, seine Maßnahmen und Einrichtungen, die Rhythmen des Tages, des Jahres, die Qualität des Spielzeugs, die Elternarbeit, kurz alles im Waldorfkindergarten prägen."

Das erste Jahrsiebt ist die prägbarste Zeit des ganzen Lebens. Alle Grunderfahrungen, Kenntnisse, Fähigkeiten werden hier gesammelt und angelegt. Die Art und Qualität der Sinneseindrücke sind von größter Wirkung, da sie tief ins unbewußte Leibliche hineinwirken und die gesamte Organbildung mitprägen. Je kleiner das Kind ist, umso weniger kann es sich durch Vorstellungen, Begriffe und Erklärungen davon abschirmen. Alle Organe, die Sinnesorgane ebenso wie Gehirn und Verdauungsorgane, bilden sich von ihrer teils noch keimhaften Anlage zu ihrer differenzierten Form aus. Nach der Schulreife findet hauptsächlich nur noch Wachstum statt.

Die Sinneseindrücke sollen im weitesten Ausmaß gedacht sein, denn nicht nur physisch-sichtbares Geschehen, sondern auch die den Handlungen zugrundeliegenden Intentionen, das Moralische bzw. Unmoralische, welches dahinter steht, nimmt das Kind mit einem feinen Wahrnehmungsvermögen ganz ungefiltert in sich auf.

 

Das Geschenk der Liebeskraft

Um eine dem Kind angemessene Kindergartenpädagogik zu finden, ist es nötig, sich von dem Kind zwischen drei und sechs Jahren ein genau beobachtetes umfangreiches Bild zu machen. Wenn wir uns fragen, wie das Kind, der Welt gegenübertritt, so sind folgende Wesensmerkmale zu finden:

Das kleine Kind bringt uns schon wie ein Geschenk seine Liebeskraft entgegen. Damit begegnet es der Welt mit völliger Offenheit, voll Vertrauen - denn die Polaritäten von Gut und Böse kennt es noch nicht. Sein Staunen drückt sich durch eine ganz an die Umwelt hingegebene Aufmerksamkeit aus. So ist es recht ungeschützt allem Geschehen ausgeliefert und damit auf unser Verständnis angewiesen.

Das Kind ist dauernd nachahmend tätig; es lernt durch Tätigsein. Nicht durch Erklärungen, sondern durch körperliches Erleben, durch die eigene Bewegung und Beobachtung versteht das Kind die Welt. Die Gesten und Bewegungen aller Art sind für das Kind die Vermittler des Verbalen. Durch wiederholtes Tun kann es sich mit dem Gesehenen verbinden, es verinnerlichen, Gefühlserlebnisse dadurch haben und so Zusammenhänge und Begriffe bilden, die ihm dann aus vielen solchen Mosaiken ein Weltbild ergeben.

Dieser Prozess, mit dem sich das Kind die Welt „einverleibt", ist ein rein nachahmender. So wird Gesehenes zum eigenen Erleben und durch Wiederholungen und Sprachverbindungen zum „Verstehen". Alles Tun bzw. Spielen ist immer ganz momentorientiert, zweckfrei, fröhlich, voller Hingabe und Begeisterung getragen und von Phantasie durchflutet.

Mit seiner Phantasiekraft vermag es einfachste Gegenstände in verschiedenste Dinge zu verwandeln und taucht auch selbst in wechselnde Rollen ein, um diese mit erlebten Inhalten durch die Kraft der Nachahmung zu füllen. Auf diese Weise lernt es mehr und mehr die Welt verstehen und formt dabei seine leiblichen Organe, die Sinneswerkzeuge und die gesamte Geschicklichkeit in Bewegung, Sprache und Denken aus.

Das gesunde Kind wünscht sich Wiederholungen, weil es dadurch die Erlebnisse verinnerlichen kann. Es liebt den Rhythmus, weil es darin Sicherheit und Zeitorientierung findet. Es liebt Lieder, Sprüche, Gesten und Bewegungsspiele aller Art und verlangt nach Märchen und Geschichten. Durch eine differenzierte Beschäftigung mit den einzelnen Entwicklungsphasen des Kindes und die Beschäftigung mit eigenen Lebensgrundlagen und -zielen können wir versuchen, eine kindgemäße Kindergartenpädagogik anzubieten.

 

Die Gestaltung des Kindergartenlebens

Wenn die 23 bis 25 Kinder - Buben und Mädchen im Alter von drei bis sieben Jahren -morgens zwischen 7.30 und 8.30 Uhr in den Kindergarten kommen, können sie erst einmal in ein selbstgefundenes Spiel eintauchen. Als Spielmaterial finden sie nicht Spielzeug im herkömmlichen Sinne vor, sondern eine große Zahl von Ständern mit Tüchern behängt, einen Korb unifarbener Tücher, Wäscheklammern, Kissen, Felle, Klötze verschiedenster Art, von Ästen nur in Stücke abgesägt. Wurzelstücke, Steine, Muscheln, Zapfen, Kastanien, Eicheln und sonst vielerlei „Naturfindlinge".

Bunte Kordeln und Bänder, um sich mit Tüchern zu bekleiden, Kronen aus Goldpapier, Tiere, Zwerge und Püppchen - gestrickt oder genäht, Handarbeitskörbchen mit Stoffresten, Scheren, Nadeln, Papier und Wachsfarben. Eine Puppenecke mit einfach gestalteten Puppen, Puppengeschirr, Wickeltüchern und Bettchen warten auf die Familien, die dort einziehen wollen. Rutschbretter für besonders bewegungsfreudige Kinder sind auch da und sicher noch vieles, was sich beim Aufzählen noch „versteckt" hatte.

 

Das Freispiel

Nun können die Kinder auf das fliegende Roß ihrer Phantasie steigen und in das Land reiten, wo die Wirklichkeit im ernsthaften Spiel voller Begeisterung und ganzer Hingabekraft in die Erlebniswelt des Kindes umgewandelt wird. Mit Tischen, Stühlen und blauen Tüchern als Wasser entsteht ein großes Schiff, eine Wurzel als Anker an einer Kordel, die Mannschaft sticht in See.

Woanders gibt es ein Wohnmobil: der Fahrer vorne lenkt gen Süden, hinten wird gekocht oder geschlafen. In einer anderen Ecke versucht ein Tierwärter seine Löwen, Tiger, Bären zu bändigen, baut einen Käfig, gibt ihnen Futter. Dann gibt es ein Krankenhaus: weiß bekleidete Kinder horchen mit einem Birkenklotz nach den Herzschlägen.

An anderer Stelle entsteht auf dem Boden ein Reich aus Wurzeln, Steinen, Moos und Tüchern für Zwerge und Püppchen. Auch noch im Raum - ein Maltisch: manche sitzen still im Getümmel und malen ein Bild. In der Küchenecke wird währenddessen das Frühstück vorbereitet: Quarkspeise, Hirse, Brötchen oder Müsli, im festen Rhythmus abwechselnd; manche helfen auch da mit.

Die Kindergärtnerin ist meist mit Haushaltsdingen - Frühstück zubereiten, nähen, sonstigen alltäglichen Arbeiten oder der Festvorbereitung - beschäftigt. Überschaubar sollte diese Tätigkeit sein, damit das Kind die Handlungen nachvollziehen kann. Je „schaffiger" und freudiger die Kindergärtnerin ihre Arbeit tut, desto intensiver spielen die Kinder.

Konflikte zwischen den Kindern bleiben nicht aus und sind ein wichtiges Übungsfeld des sozialen Miteinanders. Es ist eng bei uns; so muss mit den Brettern usw. umsichtig hantieren gelernt werden. Die Phantasie hat sehr viel zu tun, um die einfachen Materialien zu dem geforderten Gegenstand oder Wesen umzuwandeln. Da kann sie zur vollen Entfaltung kommen und bleibt später ein bleibender Schatz für phantasievolles Denken, künstlerisch-schöpferische Kräfte und gute Einfalle ganz im Alltäglichen.

Nur in dieser Zeit kann die Phantasie sich entwickeln, wenn sie die Möglichkeit bekommt. Perfekt ausgestaltetes Spielzeug lässt sie erlahmen wie ein in Gips verbundenes Bein. Dann gibt es noch das reiche Feld der Urerfahrungen: Wie schwer sind gewisse Steine, Klötze, Tische; welche Schräge brauchen Kastanien zum Kullern; wie stapelt man Aststücke geschickt zu einem Turm; wie tastet sich Moos, Holz, ein Seidentuch; wie riechen die verschiedenen Dinge? Wie baue ich Tische, Bretter, Ständer geschickt zusammen zu einem 2-Etagenhaus mit Dachterrasse?

Alle Sinne werden angesprochen und können sich voll entfalten. Der Gedächtnisschatz der Urerfahrungen ist der Rucksack für alles weitere Weltwissen - für Handwerk und Wissenschaft. Hammer, Säge, Nägel, Scheren, Nadeln, Zwirn, Messer und Kerzen auf den Tischen zu den Festen, alles das sind reiche Übungsfelder für Geschicklichkeit und Umsicht; und je geschickter ein Kind ist, desto geschützter vor Gefahren wird es sein. Natürlich erfordert der Umgang mit den aufgezählten Gegenständen von der Kindergärtnerin viel Umsicht und ein waches Auge.

Im ersten Jahrsiebt geschieht das Lernen völlig unbewusst; Erfahrungen - vor allem wiederholte - gehen in „Fleisch und Blut" über im wahrsten Sinne des Wortes. So sind Phantasieentwicklung, Geschicklichkeit und das Sammeln von Urerfahrungen die Hauptanliegen des kindlichen Spiels. Nie mehr später sind wir in der Lage zu solch einem umfangreichen Lernen.

Alle diese Möglichkeiten sind reine Angebote, die das Kind altersentsprechend ergreifen oder nur bei anderen staunend beobachten kann. Es ist kein „Gemeinschaftsprogramm" des Bauens, Malens, Naturwissen Vermittelns usw., welches von der Kindergärtnerin für die Kinder vorbereitet und planmäßig durchgeführt wird. Die Kinder können es ihren eigenen Neigungen gemäß ergreifen und deshalb mit ganzer Begeisterung tun, denn es gibt keine bessere Lernmotivation als diese Kraft.

 

Der Reigen

Zwischen 9.30 Uhr und 10.00 Uhr wird gemeinsam aufgeräumt. Aus dem bunt wirbelnden Haufen lassen sich Tüchermeister erkennen und Stühletransporteure, Baggerfahrer, welche Material an den rechten Platz bringen. Alle finden was zum Schaffen und immer wieder gibt es - trotz größtem Chaos vorher - einen geordneten Stuhlkreis mit schwätzenden Kindern und viel Platz, damit wir jetzt unsere Kreisspiele oder den Reigen machen können! Ein den Jahreszeiten entsprechendes Morgenlied, ein Fingerspiel - und die Kinder machen einfach mit oder schauen staunend zu. Wir ziehen dann alle in den Kreis zum Reigen. Das ist ein Spiel, bestehend aus Liedern, Versen, Sprüchen, der Jahreszeit entsprechend, in denen die Tätigkeiten der Menschen (z.B. Bauer) und die Welt der Tiere (Schmetterlinge, Bienen usw.) eingefangen sind. Wir machen mit Gesten das, was wir sprechen und singen und sind nun Vögel, Schmetterlinge, Regen, Donner, Blitz, Glühwürmchen usw. Die Kinder tauchen über die Gesten der Kindergärtnerin in die Erlebniswelt oder in die Rolle des jeweiligen Lebewesens oder des Menschen ein. Denn sie lernen durch Tun, durch Wiederholungen und nicht durch Erklärungen.

 

Das Frühstück

Danach gehen wir zum Händewaschen, denn bald wartet schon das Frühstück auf uns. Ein kurzes „Stille-Werden" mit einem Tischspruch geht voraus, wie auch das Danken danach zum Abschluss des Essens dazugehört. Es ist so wohlig gemeinschaftlich, wenn die Löffel klappern und auch ein wenig geplaudert wird. Wie gut auch, dass alle das gleiche essen; wir haben es zusammengetragen von zu Hause und zusammen zubereitet.

 

Freies Spiel im Garten

Danach können sich die Kinder im Garten frei bewegen, sandeln, schaukeln, klettern, Seil springen, Ball spielen, rennen. Die Kinder brauchen viel Bewegung in allen Variationen, um mit ihrem Körper hantieren zu lernen, soll er doch später das „Werkzeug", das ausführende Organ all unserer Ideen und Gefühle sein können. Bei den heutigen engen Wohnungen und den kargen Spielplätzen muss umso bewusster auf genug Bewegungsmöglichkeiten geachtet werden.

 

Das Märchen

Um 12.00 Uhr geht es wieder hinein, die Stühle für den Märchenkreis sind schon gerichtet, und bald sitzen alle wieder dicht zusammen und lauschen dem Märchen der Kindergärtnerin. Es wird oft ein Grimmsches Märchen erzählt, über mehrere Tage hinweg das gleiche. Schnell sind den Kindern die Redewendungen vertraut, so dass sie es gleich bemerken, wenn am Vortage etwas anders gesagt wurde. In die Geschehnisse des Märchens tauchen sie immer wieder neu ein, erleben Spannung und Erlösung, Spaß und Traurigkeiten und erfahren immer wieder: das Gute siegt, aber es gilt, Kämpfe zu bestehen, Opfer zu bringen.

Im Märchenkreis können die Kinder im Lauschen ganz zur Ruhe kommen. Manche müssen es erst wieder lernen, solche, welche Berieselung von Radio und Fernsehen so gewohnt sind, dass sie das „Überhören" gelernt haben - zum Selbstschutz.

Der Wortschatz kann sich gerade durch die Märchen besonders erweitern; so höre ich einmal spielende Kinder, die sagen „Komm, wir bauen uns ein Schlafgemach." -

Schließlich verabschieden wir uns, nachdem wir noch überlegt haben, welcher Tag morgen kommt: der Maltag vielleicht, der Eurythmietag, der Müsli-Hirse-Brötchentag, oder ist gar Wochenende mit Putz- und Ausruhtag?

 

Pädagogisches Anliegen

Der Rhythmus durchzieht wie ein Gerüst den Tages- und den Jahreslauf. Die Feste bilden Höhepunkte, auf die wir hinleben. Zu den Festen versuchen wir Bild- und Stimmungserlebnisse zu vermitteln, keine Erklärungen über den Inhalt. Der Jahreszeitentisch soll etwas von der Natur einfangen und wie konzentriert wiedergeben.

So sehen wir unsere wichtigste Aufgabe darin, den Kindern ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich auf natürliche Weise gesund entfalten können, so wie der Gärtner die richtige Umgebung für den Samen anlegen muss, damit die Pflanze gedeihen kann. Kraft und Eigenart des Kernes jedoch liegen nicht in den Händen des Erwachsenen. So ist die Waldorfpädagogik im ersten Jahrsiebt wie das Herrichten eines Ackerbodens, auf dem der Same zum jungen Pflänzchen gedeihen kann. Und damit werden die Voraussetzungen für alles weitere Wachstum geschaffen.

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